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Der Semmelweis-Reflex


By Geier - Posted on 13 September 2012

13. September 2012

 

Mitte des 19. Jahrhunderts in Wien: In der geburtshilflichen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses sterben mehr als 17 Prozent der Gebärenden am Kindbettfieber. In anderen Kliniken kommen sogar Sterberaten bis zu 30 Prozent vor. Besonders auffällig ist, daß die Sterblichkeit dort, wo Ärzte und Medizinstudenten arbeiten, um ein vielfaches höher ist als dort, wo die Hebammenschülerinnen ausgebildet werden. Als schließlich sein Freund, der Pathologe Kolletschka, nach einer kleinen Verletzung bei einer Leichensektion an den gleichen Symptomen stirbt wie die Mütter, zählt der junge Arzt Ignaz Philipp Semmelweis eins und eins zusammen. Er kommt zu dem Schluß, daß die Mütter an Infektionen sterben, die von den Ärzten übertragen werden, die damals zwischen Pathologie und Kreißsaal wechselweise mit bloßen Händen Tote sezierten und Wöchnerinnen untersuchten. Dort, wo Semmelweis schließlich die Desinfektion der Hände mit Chlorkalk durchsetzen kann, gelingt es ihm, die Mortalitätsrate von 17 auf 1,3 Prozent zu drücken.

Obwohl die Übertragungswege von Krankheiten noch kaum erforscht sind, bestätigt der Erfolg die Richtigkeit seiner These eindrucksvoll. Wer nun denkt, daß hinfort die Mehrheit der Ärzte dankbar die Möglichkeit ergriffen hätte, mit minimalem Aufwand ein drängendes und schwerwiegendes Problem zu lösen, hat noch nicht verstanden, wie diese Welt funktioniert. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, fühlten die Ärzte sich angegriffen: Wie konnte es sein, daß dieser Budapester Nestbeschmutzer da behauptet, daß ausgerechnet die Ärzte, die sich doch im Besitz der Lizenz zum Heilen wähnten, in Wirklichkeit die Boten des Todes waren? Daß Semmelweis sozial wohl etwas ungeschickt war, lieferte seinen Gegnern weiteren Vorwand, seine Argumente abzulehnen; die Gefälligkeit einer Aussage zählt allemal mehr als ihre Richtigkeit. Statt Anerkennung wurde ihm Hohn zuteil, seine Karriere wurde systematisch behindert, und das Sterben im Wochenbett ging weiter.

Selbst heute, da Semmelweis als »Retter der Mütter« anerkannt ist und niemand mehr die bakterielle Übertragung einer Sepsis in Frage stellt, führt mangelhafte Hygiene bei Ärzten und Pflegepersonal zu tausenden Todesfällen. Etwa eine halbe Million Patienten zieht sich jährlich in deutschen Krankenhäusern eine Infektion zu, 15.000 sterben daran, und meist werden diese Infektionen durch die Hände von Ärzten und Pflegern, mitunter auch über verunreinigte Gerätschaften übertragen, sind also durchaus vermeidbar. Stichproben einer Studie des Sepsis-Forschungszentrums des Universitätsklinikums Jena haben gezeigt, daß sich nur 20% der Ärzte und Pfleger die Hände desinfizieren, wenn dies nötig wäre. Als Gründe gelten Zeitdruck, aber auch Dünkel und Ignoranz wie zu Semmelweis’ Zeiten. Um auf diese Mißstände aufmerksam zu machen, wird am heutigen Tage erstmals der »Welt-Sepsis-Tag« begangen — ein fürchterlich sperriger Begriff, man sollte den Tag einfach »Semmelweis-Tag« nennen.

Das unmittelbare Zurückweisen einer Information, einer Entdeckung, eines unbequemen Argumentes ohne ernsthafte Überlegung und angemessene Prüfung wird heute als »Semmelweis-Reflex« bezeichnet. Und dieser findet sich durchaus nicht nur in der Medizin. So, wie viele Ärzte meinen, daß »ein blütenweißer Kittel, fundiertes Fachwissen und vor allem die hierarchische Stellung ausreichten für eine adäquate Behandlung« und man auf Kleinigkeiten wie das Desinfizieren der Hände getrost verzichten könne, gibt es auch unter geistlichen Leitern häufig die Haltung, daß man sich nicht an kleingeistige Regeln halten müsse, wenn man doch sein Leben »im vollzeitlichen Dienst aufopfere«. Sie nehmen nicht wahr, daß ihnen das Leichengift von aufklärerischer Gesinnung, Menschenweisheit und kirchlicher Lehrtradition anhaftet, mit dem sie Tausende infizieren. Sie sehen keine Notwendigkeit, sich mit dem Wort der Wahrheit zu desinfizieren. Man hat die Ausbildung, man hat die Ordination, man hat das Amt, man hat die Autorität, man hat die Salbung, wenn es irgendetwas gibt, was man nicht gebrauchen kann, dann sind es Regeln: Wenn Ingenieure ein solches Berufsethos hätten wie Theologen, würde kein Schiff je den Hafen erreichen.

Der Prophet aber, der wie Hesekiel oder Jeremijah vor solchen regellosen Hirten warnt, findet sich leicht in einer ähnlichen Position wie Semmelweis wieder; er könnte ein geistliches Massensterben abwenden, wenn man ihm glaubte, aber der Standesdünkel des religiösen Establishments erlaubt es nicht, seine Worte auch nur angemessen zu prüfen: Der »Semmelweis-Reflex« ist zeitlos und branchenübergreifend.

 

 

 

 

Abb: gemeinfrei, nach einer Federzeichnung von Jenő Dopy

 

 

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