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Die Versammlung verlassen?


By Geier - Posted on 07 Dezember 2011

7. Dezember 2011

 

Schwierige Bibelstellen VII: Hebr. 10, 25

 

Wer in seiner geistlichen Biographie schon einmal eine Denomination[G] hinter sich zu lassen hatte, wird in diesem Zusammenhang mit hoher Wahrscheinlichkeit von den Vertretern derselben mit dem Standardvorwurf konfrontiert worden sein: »Du sollst die Versammlung nicht verlassen!«. Dabei wird ungeniert der Begriff »Versammlung« auf die jeweilige Denomination bezogen, ganz so, als wäre diese die einzig legitime Darstellung des Leibes des Christos. Dieser Vorwurf kann, weil er scheinbar biblisch legitimiert daherkommt, große Gewissensnot verursachen, ja, er entfaltet außerdem eine sehr effektive vorbeugende Wirkung: Bis heute hält er ungezählte Christen in Denominationen fest, die eigentlich wissen oder ahnen, daß sie sich dort auf einem geistlichen Abstellgleis befinden, wo sie zwar betreut werden wie die Insassen eines Pflegeheims, aber niemals in ihre Berufung hineinfinden werden. Die Angst, durch das »Verlassen der Versammlung« schuldig zu werden, hindert sie an einem Ausstieg aus Strukturen, die sie  — z. B. gemäß 2. Tim. 3, 5 oder 2. Kor. 6, 17, mitunter aber auch aus anderen Gründen — eigentlich hinter sich lassen sollten.

Die Verunsicherung, die sich daraus ergibt, spiegelt sich beispielhaft in einer Leserfrage, die ich gestern im Postfach hatte:

Wir sind auch in keiner »Gemeinde«, haben keine Konfession. Jedoch habe ich nach wie vor ein Problem damit, daß Paulos sagt, wir sollen nicht unsere Versammlungen verlassen, erst recht, wenn die Zeit des Endes sei. Wie muß ich das verstehen?

Das, was gemeinhin dargestellt wird als Verbot, die Versammlung zu verlassen, stützt sich auf die Aussagen in Hebr. 10, 25:

»(Seid) nicht Verlassenhabende unsere Zusammenführung, so, wie es bei einigen Gewohnheit ist, sondern einander Beiseiterufende* …«.

Schlüssel zur Klärung der Frage, um was es hier eigentlich geht, sind wie immer der Grundtext und der Kontext: Was ist das denn eigentlich für ein Wort, das die Elberfelder mit »Zusammenkommen«, Luther und Schlachter mit »Versammlung«, Menge mit »Zusammenkünfte«, die Nacherzählung »Gute Nachricht« gar mit »Gemeindeversammlungen« übersetzt?

Im Grundtext finden wir das Wort επισυναγωγη [episynagoge], das zusammengesetzt ist aus hinauf, zusammen und führen. An dem »epi« sehen wir auch: Es geht hier gar nicht um eine statische Struktur wie eine (Frei)kirche, sondern um einen dynamischen Prozeß, also nicht um ein Zusammengeführtsein, sondern um ein Zusammengeführtwerden. Dieses Wort kommt nur an zwei Stellen im Neuen Testament vor: Hier im Hebräerbrief und in 2. Thes. 2, 1, wo von der »(Hinauf-)Zusammenführung auf unseren Herrn Jesus Christos zu« die Rede ist. Wenn wir also dem Prinzip folgen, daß die Schrift durch die Schrift auszulegen ist und nicht durch theologisches Wunschdenken, dann sehen wir anhand des Thessalonicherbriefes, daß es auch im Hebräerbrief bei επισυναγωγη gar nicht um Gemeindeversammlungen geht, sondern darum, daß die einzelnen Glieder des Christos sich nach oben hin, zu ihm hin leiten lassen. Hier geht es darum, an den Christos angepaßt, ihm ähnlich zu werden, auf ihn hinzuwachsen, ihm näherzukommen, mit ihm einszuwerden. Es geht an dieser Stelle nicht um die Beziehungen der Glieder untereinander, also in der horizontalen Dimension, sondern um die Beziehung der Glieder zum Haupt, also um die Vertikale, wie auch wieder an dem »epi« (hinauf) ganz klar abzulesen ist.

Wenn wir mit diesem Wissen im Hinterkopf die beiden Stellen im Hebräerbrief und im 2. Thessalonicherbrief noch einmal im Textzusammenhang lesen, ergeben sie auf einmal auch viel mehr Sinn. Denn solange wir επισυναγωγη im Sinne einer »kirchlichen Struktur« bzw. »Gemeindeversammlung« lesen, ergibt sich im Falle der Thessalonicher-Stelle überhaupt keine sinnvolle Übersetzungsmöglichkeit mehr, und tatsächlich: Hier wird auf einmal von den meisten auch ganz richtig im Sinne von »Vereinigung mit Christos« übersetzt. Warum dann aber nicht auch im Hebräerbrief?

Mit dem Wissen um die richtige Wortbedeutung werden beide Stellen wieder in den richtigen Zusammenhang zueinander gebracht: Wir lernen, daß das Zusammengeführtwerden mit dem Christos nicht erst schlagartig bei seiner Ankunft geschieht, sondern als wachstümlicher Prozeß schon jetzt beginnt — und daß es eben dieser Prozeß ist, den wir nicht verlassen, dem wir nicht ausweichen sollen, wie wir im Hebräerbrief ernstlich verwarnt werden. Beide Stellen, in denen das selbe Wort ja nicht zufällig steht, bekommen so eine inhaltliche Klammer: Der Abschluß dieses Zeitalters, der sowohl im Hebräerbrief als auch im 2. Thessalonicherbrief jeweils ausdrücklich erwähnt wird und der unser Zusammengeführtwerden mit dem Christos mit sich bringt, soll uns nicht unvorbereitet treffen, sondern als solche, die schon vor diesem Zeitpunkt beständig mit dem Christos zusammengeführt werden und zu ihm hinwachsen.

Zwar können auch Versammlungen ein Katalysator sein, christosähnlicher zu werden, ja sie sollten das sogar, wie wir an dem Hinweis auf das gegenseitige Ermahnen in Hebr. 10, 25 sehen, nur ist dies ein anderes Thema: Wenn die Schrift von neutestamentlichen Versammlungen spricht, benutzt sie den Begriff εκκλησια (Herausgerufene)[G] und nicht den Begriff επισυναγωγη. Die verschiedenen Begriffe bezeichnen zwei verschiedene Sachverhalte, die wir um der Klarheit des Wortes willen auch nicht durch­einanderbringen sollten.

Übrigens: Auch daß im Hebräerbrief von einer Gewohnheit die Rede ist, kann als weiteres Indiz dafür genommen werden, daß die Stelle nie geschrieben wurde, um als Warnung vor einem Kirchen­austritt herzuhalten, denn eine Gewohnheit beschreibt ja immer eine gewisse Regelmäßigkeit, ein beständiges Wiederholen, und auch wenn die eine oder andere Biographie ausnahmsweise mehrere Aus­tritte aufweisen mag, wäre es doch ein ziemlich absurder Gedanke, davon auszugehen, daß es unter den Empfängern des Hebräer­briefes mehrere gegeben haben könnte, welche die seltsame Ange­wohn­heit gepflegt hätten, immer wieder in Versammlungen ein- und dann wieder auszutreten.

Die Verunsicherung, die ich eingangs beschrieben habe, geht also hauptsächlich auf die willkürlich unterschiedliche Übersetzung von επισυναγωγη an den beiden genannten Schriftstellen zurück. Wer nun, wie es in der Praxis tausendfach geschieht, Hebr. 10, 25 als Druckmittel benutzt, um jemanden an eine (Frei)kirche zu ketten, mißbraucht den Text grob und verdreht ihn gleich doppelt: Erstens liest er ihn so, als stünde dort nicht »Zusammenführung«, sondern »Herausgerufene«, zweitens geht er darüber hinweg, daß weder das eine noch das andere auf eine denominationelle Versammlung bezogen werden darf. Darüberhinaus verurteilt er sich selbst damit: Denn die Freikirchen, deren Vertreter diesen Vers besonders gern in dem beschriebenen Sinne instrumentalisieren, hätten niemals die Landeskirchen verlassen, die protestantischen Kirchen sich nicht von der katholischen Kirche trennen dürfen, alle hätten katholisch bleiben und in Götzendienst und vielfacher Irrlehre verharren müssen, wenn dieser Vers wirklich so zu verstehen wäre, wie dies heute mehrheitlich von denen behauptet wird, die ihn mißbrauchen, um das Gewissen der Brüder als Geisel zu nehmen. Daß es jedoch mit Sicherheit nicht Paulos’ Absicht war, jemanden in Verfehlung festzuhalten, ist ganz und gar offensichtlich.

 

 

 

 

* beiseiterufen: ein persönliches beiseitenehmen zu Trost und Ermahnung

 

 

 

 

Siehe auch Geiernotiz: An den Flüssen Babylons

 

 

 

  

Nachtrag 27. 1. 2013: Unter dem Titel »… hinter sich selbst her.« ist jetzt eine .pdf-Broschur verfügbar, welche die Artikel »Wolfsblut«, »Brot, Wein und Gericht«, »Die Versammlung verlassen« und »An den Flüssen Babylons« beinhaltet. Diese kann heruntergeladen und auch als gedrucktes Heft über das Kontaktformular bestellt werden.

 

 

 

 

Rückblick 1. Lesertreffen

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