Sie befinden sich hierDer große Selbstbetrug

Der große Selbstbetrug


By Geier - Posted on 28 Juli 2010

28. Juli 2010

 

Über Liebe, Gesetz, Gnade, Glaube, Treue und Werke

 

Protestanten denken mitunter mit etwas Häme an das katholische Beichtsystem, das von etlichen Katholiken derart verstanden wird, daß sie »fröhlich sündigen« könnten, dies anschließend beichten und hernach munter weitermachen wie zuvor. Dies ist natürlich eine absurde Haltung, weil die Voraussetzung für eine gültige Vergebung ein Sinneswandel ist, und der erfordert nun einmal ein bewußtes, zielgerichtetes Aufgeben der Verfehlung.

Grund zur Häme haben die Protstanten trotzdem nicht, denn das Rechtfertigungssystem, das sie stattdessen errichtet haben, ist in seinen geistlichen Auswirkungen kaum besser. Überspitzt gesagt, ist an die Stelle der regelmäßigen Beichte die einmalige Bekehrung (wenn nicht gar, wie bei einigen Kirchen, die Säuglings»taufe«) getreten: Wer irgendwann ein »Übergabegebet« gesprochen hat (oder eben als Säugling besprengt wurde) und fürderhin unauffällig irgendwelche Gemeindeversammlungen besucht, gilt als gerettet. Wenn es gewisse Fortschritte in seiner Lebensführung gibt, wird dies sicher begrüßt; konkrete Forderungen werden jedoch in der Regel nicht gestellt, um den Vorwurf der Gesetzlichkeit zu vermeiden.

Es gibt teilweise sogar eine panische evangelikale Angst davor, Glauben im Tun sichtbar darzustellen, weil man denkt, dadurch in »Werksgerechtigkeit«, in »Gesetzlichkeit« zu geraten und damit »aus der Gnade zu fallen«. Dahinter steckt falsch verstandener Paulos — und sicher auch das Wort »allein«, das Luther in seiner Übersetzung von Röm. 3, 28 eben mal dazuerfunden hat, obwohl es im Grundtext gar nicht zu finden ist. Nicht nur das: Luther hat die 19 Vorkommen von »Gesetzlosigkeit« (bzw. gesetzlos, Gesetzloser) im Neuen Testament aus seiner Übersetzung verbannt und durch allgemeine Begriffe wie »Unrecht« oder »Ungerechtigkeit« ersetzt. Daß Jesus und die Apostel die Gesetzlosigkeit scharf geißelten, paßte Luther nicht in sein theologisches Gerüst.

Tatsächlich warnt Paulos zwar vor dem Gedanken, daß das Tun des Gesetzes ausreichen könnte, um gerettet zu werden; die Warnungen vor Gesetzlichkeit, die uns heute allerorten unter Evangelikalen begegnen, finden wir in dieser Stoßrichtung im Neuen Testament freilich nicht. Im Gegenteil: Jesus und die Apostel warnen uns vielmehr vor einem Wandel in Gesetzlosigkeit, der geradewegs ins Verderben führt.

Jesus lehrt in Mt. 24, 12:

»Weil die Gesetzlosigkeit zur Fülle anwächst, wird die Liebe der vielen erkalten.«

Heutige Prediger neigen hingegen sehr häufig dazu, einen Antagonismus* zwischen Gesetzlichkeit und Liebe zu construieren. Sie sagen sinngemäß etwa: »Du bist gesetzlich, es mangelt Dir an Liebe. Hättest Du mehr Liebe, würdest Du weniger darüber reden, was geschrieben steht.« Ich denke, jeder, der schon einmal im heutigen christlichen Betrieb auf geistliche Mißstände hingewiesen hat, kennt diesen Einwand in der einen oder anderen Form. Tatsächlich benennt Jesus aber nicht die Gesetzlichkeit als Folge der Lieblosigkeit, sondern vielmehr die Lieblosigkeit als Folge der Gesetzlosigkeit! Der von Jesus erklärte Zusammenhang ist also ein völlig anderer, als er heute zumeist dargestellt wird: Nicht Liebesmangel führt zu übersteigerter Regeltreue, sondern ein Wandel, der die Regeln Gottes mißachtet, führt zum Tod der Liebe! Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, daß mit den Sprüchen von Gesetzlichkeit und Lieblosigkeit zumeist genau das Gegenteil von dem gepredigt wird, was Jesus hier festgestellt hat. Man hält es heute eher mit dem Erzhäretiker Augustinus, der gesagt hat: »Liebe, und tu, was Du willst«. Es ist der Gedanke, der dahintersteht, daß die Werke schon irgendwie richtig sein werden, wenn man nur genug liebt. Freilich wirtschaftet man dann oft genug mit einer humanistischen, emotionalen Liebe herum, mit einem Liebesgefühl, nicht aber mit der Art Liebe, die aus der Treue zum Wort Gottes heraus erwächst.

Jesus aber weist die Gesetzlosen von sich und bekennt, sie nicht zu kennen (Mt. 7, 23). Den Pharisäern wirft Jesus nicht vor, gesetzlich zu sein — wiewohl heute »Gesetzlichkeit« und »Pharisäertum« in der christlichen Verkündigung häufig als Synonyme gebraucht werden — im Gegenteil wirft er ihnen vor, »gequollen von Heuchelei und Gesetzlosigkeit« zu sein (Mt. 23, 28). Ihr Problem war also nicht, daß sie eine zu genaue Gesetzestreue an den Tag gelegt hätten, wie dies heute häufig gepredigt wird, sondern daß sie — ganz wie dies heute noch die (frei)kirchlichen Eliten tun — ihre hausgemachten Menschensatzungen über das Wort Gottes gestellt und ihre Kräfte auf das Halten ihrer eigenen Gesetze konzentriert haben. Gegenüber dem Gesetz Gottes aber war ihre Treue mangelhaft.

Es ist eine handfeste Irrlehre, Gesetz und Liebe gegeneinander auszuspielen, und bei dieser hat auch ein humanistisches Liebesverständnis Pate gestanden, das es als lieblos bezeichnet, Forderungen nach geistlicher Rechtstreue aufzustellen oder gar durchzusetzen. Jesus lehrt uns hingegen, daß es ja gerade die Liebe ist, die uns dazu antreibt, seine Gebote zu beachten: »So ihr liebt, hütet ihr meine Gebote.« (Joh. 14, 15) Und: »So jemand mich liebt, hütet er mein Wort.«  (Joh. 14, 23; siehe auch Vers 21)

Johannes bestätigt dies, indem er feststellt, daß die Liebe Gottes sich darin auswirkt, daß wir Gottes Gebote hüten (1. Joh. 5, 3). Paulos betont, daß der Christos sich deshalb für uns dahingegeben hat, daß er uns von Gesetzlosigkeit erlöse und daß sich diese Erlösung in einem Eifer für ideale Werke äußern soll (Tit. 2, 14). Wenn man aber heute einmal verschiedene Christen fragte, wovon Jesus sie denn erlöst habe, wird »Gesetzlosigkeit« wahrscheinlich kaum unter den Begriffen sein, die man zu hören bekommt, und wenn überhaupt, dann sehr weit hinten placiert.

Das Achten auf Werke der Gerechtigkeit, das Meiden von Verfehlung ist also durch und durch neutestamentlich. Jesus fordert uns auf, unser Licht vor den Menschen leuchten zu lassen, die unsere idealen Werke sehen und dadurch unseren Vater in den Himmeln ehren sollen (Mt. 5, 16).
Tatsächlich hat aber Luthers Satz »Sola Fide« (»allein der Glaube«) und die darauf aufsetzende Theologie dazu geführt, daß die Ansicht, daß man durch das bloße Fürwahrhalten von Lehrsätzen und Glaubensbekenntnissen gerettet würde, unausrottbar zu sein scheint. Dabei hat Jakobos alles so deutlich erklärt: Selbst die Dämonen glauben an den einen Gott, das rechtfertigt sie aber durchaus nicht (Jak. 2, 19). Und dann erklärt er bis zum Vers 26, daß ein Glaube ohne Werke tot ist. So wie es also, wie oben gezeigt, keinen Gegensatz zwischen Liebe und Gesetz gibt, existiert auch kein Gegensatz zwischen Glauben und Werken, weil ein lebender Glaube die richtigen Werke hervorbringen wird.

Wer deutscher Muttersprache ist, hat es hier besonders schwer, die Angelegenheit zu durchschauen; vielleicht ist dies auch der Grund, daß es ausgerechnet Luther war, der hier die Schwerpunkte so verschoben hat. Denn das deutsche Wort »Glaube«[G] hat eine andere Bedeutung als das hellenische πίστις, das hier im Grundtext steht und eher mit »Treue« zu übersetzen wäre, wodurch auch klar würde, daß es hier eben nicht um ein Fürwahrhalten von Dogmen geht, sondern um ein tätiges treues Festhalten am Wort Gottes. Treue reicht weit in unser Tun, in den Bereich unserer Werke, hinein. Wer treu ist, tut nichts, was demjenigen, dem er zur Treue verplichtet ist, entgegensteht. Glaube ist eine Frage von Überzeugungen, Treue aber auch eine Frage des Verhaltens. Wer sich untreu verhält, ist eben nicht treu. Treue geht weit über das starre Halten von Gesetzen hinaus. Sie ist nicht auf ein bloßes Regelwerk ausgerichtet, sondern auf die Person, die dieses Regelwerk gestiftet hat. Sie ist in erster Linie immer auf Gott selbst ausgerichtet, dem gegenüber die Treuebindung besteht, und gerade deshalb achtet sie auch dessen Wort.

»Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was irgend ich euch gebiete.« (Joh. 15, 14) 

Die Theologie jedoch hat Glauben und Werke entkoppelt. Jakobos aber — man lese die Verse 14 bis 26 des zweiten Kapitels seines Briefes im Zusammenhang — entlarvt das Denken, man könne aufgrund bloßer Glaubensüberzeugungen gerettet werden, die sich nicht in entsprechenden Werken der Treue äußern, als grandiosen Selbstbetrug. Und selbst Paulos, der festgestellt hat, daß es unmöglich ist, aus Werken heraus vor Gott gerechtfertigt zu werden, ja daß der Gedanke, dies zu vermögen, sogar von der eigentlichen Gerechtigkeit in Christos ablenken kann und dessen Aussagen häufig aus dem Zusammenhang gerissen werden, um die Notwendigkeit rechtgemäßen Tuns zu vernebeln, hat klar festgehalten: »Nicht die Hörer des Gesetzes sind Gerechte bei dem Gott, sondern die Täter des Gesetzes  werden gerechtfertigt werden.« (Röm. 2, 13)

Man stelle sich nur einmal vor, Noach hätte — so wie dies viele Evangelikale heute zweifellos tun würden — gesagt: »die Gnade Gottes genügt mir«, aber nicht angefangen, mit seinen Händen Holz einzuschlagen und diese Arche zu bauen, ja auch seine Familienangehörigen verbindlich angewiesen, ihn hierin zu unterstützen: Sie wären ertrunken. Die Gnade, die ihn von dem kommenden Gericht rechtzeitig in Kenntnis gesetzt und ihm den Ausweg gewiesen hatte, wäre ins Leere gelaufen, wenn Noach eine solch absurde Theologie vertreten hätte wie ein großer Teil der heutigen Christen.

In der Bergpredigt lesen wir, daß, wenn wir der Regentschaft der Himmel teilhaftig werden wollen, unsere Gerechtigkeit die der Pharisäer und Schriftkenner übersteigen muß (Mt. 5, 20). Offensichtlich ist, daß hier kein quantitatives Mehr gemeint sein kann; vielmehr muß unsere Gerechtigkeit von einer anderen, wertvolleren Art sein als die pharisäische. In Philipper 3, 9 — wie auch an vielen anderen Stellen — beschreibt Paulos die Quelle dieser besseren Gerechtigkeit: Sie kommt nicht aus dem Gesetz, sondern aus der Treuebindung an den Christos. Paulos bezieht seine Gerechtigkeit direkt aus Gott und aus dem Wissen heraus, daß er zusammen mit Jesus gestorben und auferstanden ist, ihm also in allem gleichgestaltet wurde. Aber ist dies nicht ein Widerspruch zu der Feststellung aus dem Römerbrief, daß die Täter des Gesetzes gerechtfertigt werden? Nein, denn wenn wir nun verstanden haben, daß Treue unser Tun einschließt, lösen sich auch die künstlich construierten Widersprüche zwischen Glauben[G] und Werken auf, die so viel Verwirrung und theologischen Streit stiften. Denn Jesus läßt keinen Zweifel daran, daß der Neue Bund nicht in einer Aufhebung des Gesetzes besteht, sondern vielmehr in seiner Erfüllung (Mth. 5, 17). Das Wort »Erfüllung« (πλήρωμα) ist hier genauer wiederzugeben mit dem Begriff »Vervollständigung«. Er bedeutet, daß etwas unvollkommenes bzw. unvollständiges zur Fülle, zur Fertigstellung, zur Reife, zur Vollständigkeit gebracht wird. So wird zum Beispiel das Weib, das ja anfangs aus dem Adam herausgenommen wird (1. M. 2, 22), zu seiner Vervollständigung, indem sie ihm wieder hinzugefügt wird. So wird die Herausgerufene[G] zur Vervollständigung des Christus, indem sie ihm, dem Haupt in den Himmeln, die Glieder auf der Erde zur Verfügung stellt. Die Vervollständigung des Gesetzes ist die Liebe (Röm. 13, 10). Somit ist auch der Neue Bund nicht — wie gelegentlich gemeint wird — die Auflösung des Alten Bundes, sondern dessen Vervollständigung.

Bei Jeremiah (Jer. 31, 33) lesen wir, wie diese »andere Art« der Gesetzeserfüllung beschaffen ist: »…dies ist der Bund, den ich mit dem Hause Israel schneiden werde nach diesen Tagen — Treuewort Jahwehs: Ich gebe meine Zielgebung[G], daß sie in ihrem Innern, und auf ihr Herz schreibe ich sie, und ich werde ihnen zum Elohim, und sie, sie werden mir zum Volk.« Zitiert wird dieses geistliche Prinzip in Hebr. 10, 16. Hier steht: »ich werde sie (die Zielgebungen[G]) auf ihr Durchdenken schreiben«. Die Erfüllung der Zielgebung[G] folgt im Neuen Bund also nicht mehr aus der Beobachtung einzelner Verordnungen, sondern aus der unmittelbaren Gemeinschaft mit Gott heraus, der die Zielsetzungen erklärt, die hinter dem Gesetz stehen. Das buchstäbliche Erfüllen des Gesetzes kann dabei völlig unzureichend sein. Um zu verstehen, wie diese geistliche Art der Erfüllung des Gesetzes aussieht, lese man z. B. die Bergpredigt (Mt. 5 — 7). In der Broschur »Mann der Ruhestatt« (.pdf-Datei) wird anhand des Sabbatgebotes beispielhaft erklärt, wie eine neutestamentliche Erfüllung des Gesetzes aussehen kann. Trotzdem Paulos also die Freiheit vom Joch des Gesetzes betont, bleibt bestehen, daß die Erfüllung des Gesetzes an uns sichtbar werden muß: Man lese hierzu in Ruhe Röm. 8, 3 — 4. Wir sehen hier einerseits, daß Gott das uns Unmögliche vollbracht hat, indem Christos selbst das Gesetz erfüllt hat, daß aber diese »Erfüllung der Rechtsforderung des Gesetzes« nicht irgendwo stattfindet, sondern in uns.

Es gibt also durchaus eine neutestamentliche Dimension des unbequemen Satzes:

Wer sein Ohr wegwendet vom Hören der Torah, auch noch sein Gebet ist ein Greuel. (Spr. 28, 9)

 

 

Siehe auch Geiernotiz: »Umbringen, um zu beleben«

 

 

 

 

* Antagonismus: grundsätzlicher, unüberbrückbarer Gegensatz

 

 

 

 

 

Free Tagging (Freies Zuweisen von Kategorien)

Rückblick 1. Lesertreffen

Beliebte Inhalte



CAPTCHA
Diese Frage hat den Zweck, zu testen, ob man ein menschlicher Benutzer ist und um automatisiertem Spam vorzubeugen.
Bild-CAPTCHA
Bitte die im Bild dargestellten Buchstaben (ohne Leerzeichen) eingeben.

Geierpost buchen

Inhalt abgleichen