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Tradition und Bibel: Wie man das Wort Gottes ungültig machen kann


By Geier - Posted on 15 Oktober 2009

15. Oktober 2009

(Dieser Artikel ist mit kleineren Abweichungen zuerst im Dezember 2008 in der KOMM! Nr. 26 erschienen)

Abb.: Ruth auf dem Feld des Boas

 

 

Ist es denn möglich, das Wort Gottes ungültig zu machen? Selbstverständlich vermag niemand, sich dem Wort Gottes entgegenzustellen. Jedes Jota wird erfüllt werden und alles, was Gott zugesagt hat, wird geschehen. Aber andererseits es ist doch verhältnismäßig einfach, die segensreichen Auswirkungen des Wortes Gottes in unserem eigenen Leben zu blockieren.

Jesus nennt dies: Das Wort Gottes ungültig machen. Wie genau funktioniert das nun?

In der letzten Ausgabe der KOMM! wurde berichtet, wie die Katholische Bischofssynode sich gegen eine »fundamentalistische Bibelauslegung« verwahrt. Dabei wurde eine bischöfliche These zitiert, die da sagt: »Das Wort Gottes, das in der Schrift und auch in der Tradition anwesend ist, muß wirklich die Menschen von heute berühren können.« Bruder Gassmann hatte nachfolgend  den Kampfbegriff »Fundamentalismus« ins rechte Licht gerückt, ich möchte nun heute den katholischen Begriff von »Tradition« durchleuchten und auf seinen biblischen Gehalt hin abklopfen.

Was ist von der zitierten Behauptung zu halten, daß das Wort Gottes sowohl in der Bibel als auch in der Tradition anwesend sei? Es ist dies ja eine urkatholische These. Die Katholische Kirche hat nie bestritten, daß für sie neben der biblischen Offenbarung auch die kirchlichen Überlieferungen Verbindlichkeit besitzen. Allerdings müssen wir zugeben, daß auch in evangelischen Kirchen und Freikirchen, die sich formal auf den Grundsatz »Sola Scriptura« — also auf die Alleinverbindlichkeit der Bibel — berufen, Traditionen eine erhebliche Rolle spielen. Gemeinhin wird dies auch gar nicht als Problem angesehen: Traditionen werden als wertvolle Ergänzung und Bereicherung, sozusagen als der »Zuckerguß auf dem Evangeliumskuchen« verstanden. Sie werden als »nützlich« betrachtet, so als ob Nützlichkeit ein geistlicher Bewertungsmaßstab wäre. Wo nicht als nützlich, werden sie in ihrer geistlichen Bedeutung und Wirkung oft als »neutral« angesehen, als wertfrei, als etwas, das in dem großen geistlichen Kampf keiner Front klar zugeordnet werden könne. Erlaubt uns nun die Heilige Schrift selbst eine solche Sichtweise? Sehen wir uns dazu den biblischen Traditionsbegriff an: Tradition bzw. Überlieferung heißt im neutestamentlichen Griechisch »παραδοσις« [paradosis], wörtlich übersetzt das »Beigegebene«. Wir finden Worte mit diesem Stamm fünfundzwanzig mal im Neuen Testament. Wenn man alle Vorkommen miteinander vergleicht, stellt man fest, daß es zwei scharf voneinander abgegrenzte Arten solcher »Beigegebenen«, also Überlieferungen, gibt:

Typ 1 sind die Beigegebenen Gottes. Als Textbeispiel hierfür steht 2. Thess. 2, 15: »Demnach Brüder, stehet fest und haltet die Beigegebenen, die ihr gelehrt wurdet, sei es durch das Wort, sei es durch unseren Brief.«

Typ 2 sind die Beigegebenen der Menschen. Textbeispiel hierfür ist Mk. 7, 13: »…durch eure Beigegebenen (Überlieferungen, Traditionen) macht Ihr das Wort Gottes ungültig.«

In jeder einzelnen Schriftstelle ist aus dem Zusammenhang eindeutig ersichtlich, ob es sich um den ersten oder um den zweiten Typ von Überlieferungen handelt. Sie sind klar und unmißverständlich voneinander abgegrenzt. Das, was uns Gott überliefert hat (Typ 1), können wir heute in der Bibel nachlesen. Jede andere Überlieferung, die nicht biblisch festgeschrieben ist, muß damit dem zweiten Typ zugerechnet werden, sie ist als »Überlieferung der Menschen« einzustufen. Nachbiblische Traditionen, die über das hinausgehen, was in der Bibel fixiert ist, sind »Menschensatzungen«.

Unsere Frage muß nun sein: Sind die Überlieferungen vom Typ 2 (Traditionen, menschliche Überlieferungen) eine Bereicherung und Ergänzung für die Überlieferungen des Typs 1 (Bibel), sind sie wenigstens unbedenklich bzw. neutral oder hat sich Gott solche zusätzlichen Beigaben verbeten?

Zur Beantwortung lesen wir zunächst 1. Kor. 4, 6:
»Dies aber, Brüder, habe ich … auf mich selbst und Apollos angewandt, damit Ihr an uns lernt, nicht auf die Dinge zu sinnen, die über das hinausgehen, was geschrieben steht, damit Ihr nicht aufgeblasen werdet …«
Die Situation war hier die folgende: Die Korinther hatten ein fleischliches Gemeindeverständnis entwickelt und angefangen, die Herausgerufene [G] in Denominationen zu zerteilen. Paulos nimmt diese Fehlentwicklung zum Anlaß, um sie (und uns) darüber zu belehren, daß die Ursache derselben war, daß sie ihre eigenen Vorstellungen neben das Wort Gottes gestellt hatten. Sie hatten in ihren Gemeindeangelegenheiten über das hinausgedacht, was Gott ihnen beigegeben hatte. Die Formulierung des Paulos läßt keinen Zweifel daran, daß die aktuelle Verfehlung (Denominationsbildung) nicht sein einziges Anliegen ist. Es gab ja auch andere Verfehlungen in Korinth. Deswegen hilft es nicht viel, an den Symptomen herumzukurieren. Paulos will, daß die Korinther die Ursache verstehen. Diese besteht darin, daß die Korinther sich nicht darauf beschränkt haben, das Wort Gottes zur Grundlage Ihres Tuns und Denkens zu machen, sondern daß sie darüberhinaus andere Erkenntnisquellen in ihre Praxis haben einfließen lassen. Ihre Grundlage war eine Mischung aus göttlicher und menschlicher Lehre. Auch in Röm. 12, 3 warnt Paulos davor, »über das hinauszudenken, was zu denken bindend (d. h. verpflichtend) ist.« Bindend für unser Denken aber ist das Wort Gottes.
Als Ruth auf dem Feld des Boas Ähren auflesen durfte, wurde ihr streng verboten, auch auf anderen Feldern Ähren zu lesen (Ruth 2, 8). Boas hätte ihr auf einem fremden Feld keinen Schutz gewähren können. Die Ähren des Boas sind ein Bild für das Brot des Lebens, das Wort Gottes. Auch wir sollen nicht Ähren von fremden Feldern lesen, weil wir dann den uns zugewiesenen Schutzbereich verlassen würden.

Sehen wir uns noch einmal Markus 7 an und lesen nach, ob die Kernaussage — »…durch Eure Überlieferungen (Traditionen) macht Ihr das Wort Gottes ungültig« — nur auf die konkrete Situation beschränkt, oder ob sie allgemeingültig ist:
In den Versen 9 und 13 lesen wir: »Ihr erachtet es als trefflich, ein Gebot Gottes abzulehnen um Eure Überlieferungen zu halten … Ihr macht das Wort Gottes durch Eure Überlieferung, die Ihr überliefert habt, ungültig. Solches und dergleichen tut Ihr viel.«
Aber der Textzusammenhang beginnt schon in Vers 1: Die Pharisäer und Schriftgelehrten hatten festgestellt, das Jesus und seine Jünger gegen die anerkannte Tradition — die Überlieferung der Ältesten — verstießen, da sie mit ungewaschenen Händen Brot aßen, und verlangten Rechenschaft. Statt nun aber das eigene Verhalten zu entschuldigen, geht Jesus sofort in die Offensive und wirft ihnen Heuchelei vor, da sie ihre eigenen, menschlichen Belehrungen über das Wort Gottes stellten, indem sie das, was sie zur Versorgung ihrer Eltern beitragen sollten, lieber als religiöses Opfer zelebrierten. Das aktuelle Problem mit der Versorgung der Eltern nimmt Jesus freilich nur zum Anlaß, um diesen allgemeinen Vorwurf zu illustrieren: Ihr habt zugelassen, daß sich Euer eigenes Denken neben das Wort Gottes stellt. Dies führt in der Praxis immer dazu, daß sich Euer Denken über das Wort Gottes erheben wird.
Die Allgemeingültigkeit und Zeitlosigeit dieses Vorwurfes ist ganz offensichtlich: Jesus bezieht sich darauf, daß schon Jesaja diesbezüglich prophezeit hat, und um ganz ganz sicher zu gehen, daß nicht ein paar tausend Jahre später jemand kommt und sagt, hier wäre nur die Tempelgabe oder das Händewaschen gemeint, schließt er ab: »solches und desgleichen tut Ihr vieles
Wenn wir die Verse 1 bis 13 im Zusammenhang lesen, bleibt kein Zweifel, daß es sich um eine allgemeingültige Auseinandersetzung darüber gehandelt hat, ob es notwendig und erlaubt ist, Menschensatzungen zu halten. Die Pharisäer sagten: »Notwendig.« Jesus provoziert bewußt eine Auseinandersetzung über die Traditionsfrage, indem er solche Satzungen mißachtet, und als sie ihn dieserhalb greifen wollen, dreht er den Spieß herum: »Ihr behauptet, man müßte Eure Satzungen halten, aber ich sage Euch: Wenn man anfängt, menschliche Überlieferungen zu halten, geht das immer zulasten der Beachtung göttlicher Gebote. Am Beispiel der Tempelgabe erkläre ich Euch das Prinzip und zeige Euch Eure Heuchelei, aber ich könnte Euch jederzeit noch dutzende andere Beispiele nennen.« Dabei ist ganz offensichtlich, daß der konkrete Anlaß austauschbar ist, denn auf die ursprüngliche Frage nach dem Händewaschen geht Jesus gar nicht mehr ein und greift willkürlich ein anderes Beispiel heraus um sein eigentliches Anliegen darzustellen: Menschliche und göttliche Überlieferung führen keine »friedliche Koexistenz«, sie stehen vielmehr im unerbittlichen Widerstreit gegeneinender, oder wie Paulos es in Röm. 8, 7 formuliert hat: »Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott, weil sie sich dem Gesetz Gottes nicht unterordnet, denn sie vermag es auch nicht
An solchen Beispielen wie der Tempelgabe oder der korinthischen Denominationsbildung sehen wir, daß es sich bei der »Gesinnung des Fleisches« durchaus nicht nur um irgendwelche »weltlichen« Verfehlungen, sondern gerade auch um das religiöse Fleisch handelt, um die menschliche Frömmigkeit, die immer wieder der Versuchung erliegt, über das hinauszugehen, was geschrieben steht und damit ein wenig klüger als Gott sein zu wollen. Paulos aber warnt uns in Kol. 2, 8:
»Hütet Euch, daß Euch niemand beraubt wegführe durch Philosophie und leere Täuschung gemäß der Beigegebenen (Traditionen, Überlieferungen) der Menschen, gemäß den Grundregeln der Welt und nicht gemäß Christus.«
Gibt es immer noch den Rest eines Zweifels, daß die Überlieferungen der Menschen niemals christusgemäß sein können? Paulos ordnet sie dem Bereich der Welt zu, aus deren Herrschaftsbereich wir erlöst sind. Und auch Petros betont, daß wir durch das Blut des Christos erlöst sind von der nutzlosen Religiosität (άναστροφή), die uns von den Vätern beigegeben wurde (1. Petr. 1, 17f). Die Christen der ersten Jahrhunderte hatten das verstanden. Tertullian schreibt in seinem Buch »An die Nationen«: »Unser Kampf ist gegen die Institutionen unserer Vorfahren, gegen die Autorität der Tradition, gegen Menschengebote, gegen die Überlegungen der Weisen dieser Welt, gegen das Altehrwürdige und gegen die Bräuche.« Wie radikal anders ist dieser Ansatz als das Denken der Neuzeit, das Christentum häufig mit Traditionspflege in Zusammenhang bringt! Und wie wenige Christen würden diesen Satz heute unterschreiben wollen? Und doch ist dies der biblisch vorgezeichnete Weg.

Warum nun aber straucheln heute so viele Evangelikale, obwohl sie doch die Irrtumslosigkeit der Schrift grundsätzlich anerkannt haben? Es ist durchaus nicht ausreichend, anzuerkennen, daß die Bibel inspiriert und fehlerlos ist, solange wir nicht auch anerkennen, daß sie auch in allem genügend ist. Viele meinen heute, die Schlacht wäre geschlagen, wenn sie die Irrtumslosigkeit der Schrift prinzipiell akzeptieren würden. Dem ist aber nicht so. Immer wieder höre ich, die Schrift wäre zwar uneingeschränkt richtig, aber sie wäre nicht verständlich. Es wird gesagt, man könne diese oder jene Frage nicht anhand der Schrift beantworten, weil es ja völlig unterschiedliche Meinungen in dieser Frage gäbe, und schließlich würden sich ja die Vertreter dieser unterschiedlichen Meinungen jeweils auf die Bibel berufen. Diese zwar wäre gut und richtig, aber der Mensch eben nicht in der Lage, sie wirklich zu verstehen. Wer so redet, hat nicht verstanden, daß die Bibel in der Regel nicht dort zu unterschiedlichen Auffassungen führt, wo sie unverständlich wäre, sondern dort, wo sie unbequem ist. Die meisten Differenzen über dem Wort entstehen doch da, wo jemand nach Rechtfertigungsgründen sucht, seine überkommene Meinung beibehalten zu können. Beispielhaft sehen wir wiederum im Katholizismus, wo dieses Denken in letzter Konsequenz hinführt: Ist die Bibel nicht allgemeinverständlich, bedarf es einer klerikalen Schicht, die dem gemeinen Volk die Schrift erklärt. Die Schrift ist dann eingeschränkt auf den Rahmen, den theologische Begrifflichkeit und kirchliche Auslegungen ziehen. Wer sich also auf die angebliche Unverständlichkeit der Bibel herausredet, steht am Ende auch nicht besser da, als wenn er gar keine Bibel hätte. Aber selbst wer sich zu Richtigkeit und grundsätzlicher Verständlichkeit der Bibel bekennt, hat noch nichts gewonnen, bis er auch anerkennt, daß die Bibel ausreichend ist, daß es also über die Bibel hinaus keiner weiteren Offenbarungsquellen bedarf. Wenn es in Ps. 87 heißt: »All meine Quellen sind in Dir«, dann bedeutet dies, daß es keine anderen legitimen Quellen gibt. Es ist das Konzept »Bibel plus«, an dem die Herausgerufene [G] krankt. Genau dieses Konzept ist es, das sowohl Jesus wie auch Paulos deutlich verurteilen. Alles, was wir zur Schrift hinzufügen, was wir »beigeben«, der ganze Wust an menschlichen Traditionen und Überlieferungen, wird keine Ruhe geben, bis er das Wort Gottes in unserem Leben ungültig gemacht und ersetzt hat.  Anfangs scheint die Tradition ganz unschuldig neben der Bibel zu stehen, aber irgendwann bringt sie uns dazu, zwischen Tradition und Bibel abzuwägen, und dann haben wir verloren.

Der traurige Anblick, den kirchliche Strukturen heute im direkten Vergleich mit der Herausgerufenen [G] abgeben, die wir im Neuen Testament beschrieben finden, hat seine Ursache in den tausend kleinen Menschensatzungen, die das Wort Gottes ungültig gemacht haben. Irrlehre fängt ja nicht erst an, wenn jemand behauptet, daß man als Christ grüne Haare haben müsse. Schon wenn wir unkritisch bestimmte Ansichten oder Praktiken übernehmen, die sich in den letzten Jahrtausenden der Kirchengeschichte eingebürgert haben, die aber ihren Ursprung nicht in der Schrift haben, ist dies praktizierte Irrlehre. Aufgabe des Lehrdienstes ist es, den Blick auf solche Menschensatzungen zu lenken. Ob wir evangelistische Videos verteilen, Pastoren anstellen, uns auf die Feste des katholischen Kirchenjahres beziehen, welche Lieder wir singen — all dies ist praktizierte Lehre und muß sich die Frage gefallen lassen, ob und wieweit es schriftkonform ist. Die Gefahr besteht darin, daß viele Praktiken als selbstverständlich hingenommen werden, ohne jemals auf ihre »Bibelkompatibilität« hin überprüft zu werden. Es geht also weniger um spektakuläre Lehrfragen als um den ganz normalen Gemeindealltag. Bei jedem Detail müssen wir uns irgendwann die Frage stellen: Drücken wir damit Christus aus oder nur uns selbst?

 

 

 

 

Siehe zum Thema auch: »… das Blöken von Kleinvieh in meinen Ohren«

 

 

 Bild: Schnorr v. Carolsfeld, gemeinfrei

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