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Systemrelevanz


By Geier - Posted on 07 Juni 2009

7. Juni 2009

Warum Arcandor besser untergehen sollte


Keine Systemrelevanz:

Karl Beyers Kolonialwarenladen wurde nicht mit Steuergeldern gerettet.

 

 

Wenn heute Großunternehmen Staatshilfen zu ihrer Sanierung fordern (ganz recht, man bittet nicht, man fordert das Geld anderer Leute), dann ist eines der wichtigsten Argumente, um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, die tatsächliche oder behauptete Systemrelevanz.

Systemrelevanz bedeutet, daß eine Insolvenz des in Frage stehenden Unternehmens negative Auswirkungen auf das gesamte Wirtschaftssystem habe würde. Durch einen Domino-Effekt würde das Unternehmen bei seinem Untergang auch andere Betriebe mit in den Ruin reißen. Dieses Argument hat bisher hervorragend gewirkt, um Politiker dazu zu bewegen, Geld auszugeben, das ihnen nicht gehört, um solche »systemrelevanten« Betriebe aufzufangen. Das hat bei der HRE funktioniert, wo es gelang, eine Drohkulisse aufzubauen, die die entscheidenden Politiker veranlaßt hat, die Summe von 35 Milliarden € quasi über nacht und wegen des Zeitdruckes auch ohne Prüfung bereitzustellen. Auch Opel wurde letztlich wegen seiner angeblichen Systemrelevanz mit Steuergeld gerettet — pünktlich am letzten Tag vor der Insolvenz des Mutterkonzerns GM.
Dabei weiß jeder erfahrene Haushalter, daß Geschäfte, die unter Zeitdruck zustandekommen, selten solide sind. Wer eine Ware »nur noch heute« besonders günstig anbietet, kalkuliert nicht seriös und hat kaum ehrliche Absichten. Er will beim Kunden durch einen simplen Psychotrick eine Kaufentscheidung provozieren, die dieser bei rationaler und ruhiger Betrachtung nicht fällen würde. Wer aber meint, gerde heute noch eine Ware besonders günstig zu bekommen, für die er nachtags viel mehr zahlen müßte, kauft unter Umständen Dinge, die er eigentlich überhaupt nicht brauchen würde und denkt am Ende noch, er hätte ein gutes Geschäft gemacht. Die gleichen psychologischen Mechanismen, die jeder Marktschreier beherrscht, um Ladenhüter unters Volk zu bringen, funktionieren auch in der großen Politik.
Um den nötigen künstlichen Druck aufzubauen, der Politiker dazu bewegt, notleidende Betriebe mit Steuergeldern zu retten, ist der Begriff der »Systemrelevanz« von unschätzbarem Wert. Wie aber gelangt ein Betrieb zu systemrelevanter Größe und Verflechtung? In der Regel nicht dadurch, daß er immer mehr Produkte an immer mehr Kunden verkauft, sondern dadurch, daß er seine Erträge (und nicht nur diese, sondern hauptsächlich von Banken und Anlegern geborgtes Geld) dazu einsetzt, andere Betriebe aufzukaufen und sich einzuverleiben um dadurch eine mehr oder minder marktbeherrschende Position in seiner Branche zu erobern. Wer nicht nur die Vermischtenmeldungen seiner Zeitung liest, sondern auch den Wirtschaftsteil, findet fast täglich neue Meldungen von Unternehmenskäufen und Betriebsfusionen. Durch die gewonnene Größe können die so entstandenen Superkonzerne Entwicklungskosten sparen, Druck auf Lieferanten ausüben und dadurch ihre Einkaufskosten senken, gegenüber Kunden höhere Preise erzielen (weil ja die Konkurrenz eingeschränkt ist) und werden so profitabler. In der Theorie zumindest. In der Praxis verheben sich viele vorher gesunde Unternehmen durch solche Übernahmen und werden selbst zu Dauerpatienten. Mercedes-Benz hat sich noch nicht erholt von seinem Chrysler-Abenteuer, das 57 Milliarden Euro gekostet haben könnte, wovon fast die Hälfte die »Scheidungskosten« sind, also das Geld, das die Entflechtung der Unternehmen gekostet hat, nachdem man festgestellt hatte, daß man doch nicht zusammenpaßt. Dadurch ist Mercedes-Benz selbst zu einem großen Teil in die Hände ausländischer Eigentümer gekommen.
Selbst Porsches Zukunft ist im Moment wegen drückender Schulden ungewiß, nachdem Analysten noch vor wenigen Monaten des Lobes voll waren über den genialen Coup, mit dem der kleine Autobauer den riesigen Volkswagen-Konzern schlucken wollte und auch Scheffler hat sich hoffnungslos verhoben mit der Continental-Übernahme und will nun vom Staat gerettet werden.
Auch der Handelskonzern Arcandor (Karstadt, Quelle) ist nicht durch natürliches Wachstum, sondern durch Fusionen und Unternehmenskäufe zu seiner »systemrelevanten« Größe angewachsen; in der Frühzeit von »Quelle« sollen solche Erweiterungen durchaus auch durch die
Arisierung jüdischen Besitzes zustandegekommen sein. Jetzt soll mit Steuergeld der Arcandor-Konzern soweit fit gemacht werden, daß er für eine Übernahme durch den Metro-Konzern interessant wird, wodurch ein noch größeres, noch »systemrelevanteres« Gebilde entstünde, das im Mißerfolgsfalle eine noch größere Drohkulisse aufbauen könnte, um weitere Steuergelder zu erpressen.
Denn wenn die Rechnung, durch schiere Größe auch den Gewinn zu maximieren, nicht mehr aufgeht, ist diese Größe immer noch gut als Erpressungspotential gegenüber dem Staat: »Rettet uns, sonst gehen zehntausende Arbeitsplätze verloren« — und das auch noch vor der Wahl. Das Wahlargument ist nicht zu unterschätzen, so
hat z. B. Frau Merkel dafür gesorgt, daß die Wadan-Werften, die in ihrem Wahlkreis liegen, trotz fachlicher Bedenken mit 180 Millionen € Steuergeld gestützt wurden, was nichts genützt hat
— inzwischen sind sie trotzdem insolvent. Und auch die Opelrettung hat vor allem das Ziel gehabt, unter allen Umständen eine Insolvenz vor der Bundestagswahl zu vermeiden. Der Begriff Systemrelevanz bezieht sich also offensichtlich nicht nur auf das Wirtschaftssystem, er greift auch auf das politische System über.

Die ganze Sache hat einen geistlich sehr interessanten Aspekt. Die Schrift sagt:
Wehe denen, die Haus an Haus reihen, Feld an Feld rücken, bis gar kein Raum mehr ist, und ihr allein seßhaft seid inmitten des Landes! (Jes. 5, 8)

Dies ist eine klare Warnung vor den Konzentrationen an Marktmacht, wie sie heute überall durch Fusionen und Unternehmenskäufe entstehen, und zwar werden konkret benannt der Immobilienbereich (Häuser) und der Bereich der Produktionsmittel (Äcker). Offensichtlich will Jahweh eine kleinteilige Wirtschaft, wo möglichst viele freie, selbständige Wirtschaftsteilnehmer auf Augenhöhe miteinander Waren und Dienstleistungen austauschen können. Freilich steht das menschliche Bestreben, »sich einen Namen zu machen« (1. M. 11, 4), das heißt, möglichst große Wirtschaftseinheiten mit mächtigen Marken (Namen) zu generieren, dem entgegen. »Feld wird an Feld gerückt«, Unternehmen an Unternehmen, es wird genau das getan, wovor Jeschajahu hier warnt.
In einer kleinteiligen Wirtschaft gibt es kaum Erpressungspotential zwischen den Marktteilnehmern, weil aufgrund der vorhandenen Vielfalt Geschäftspartner frei wählbar sind. Keiner beherrscht das Marktgeschehen oder kann es entscheidend beeinflussen. In einer gesunden Wirtschaft gäbe es gar keine systemrelevanten Betriebe! Und genau das ist das der entscheidende Punkt: Biblisch betrachtet, ist Systemrelevanz kein Argument, um ein Unternehmen zu retten, im Gegenteil, Systemrelevanz ist ein wichtiger Grund für eine Zerschlagung eines Unternehmens in kleine Teile. Systemrelevante Unternehmen sind gefährlich. Sie bergen große volkswirtschaftliche Risiken, weil sie in ihrem Funktionieren andere übervorteilen und in ihrem Untergang andere gefährden.

Aufgabe der Kartellbehörden wäre es, das Entstehen systemrelevanter Unternehmen grundsätzlich zu unterbinden. Entstehen solche doch, haben die Kartellbehörden (oder das Kartellrecht) versagt. Brechen solche Betriebe dann »freiwillig« zusammen, ist eine Rettung mit Steuergeld das allerletzte, was ein Staat tun sollte. Er sollte demütig dabeistehen und dankbar sein, daß der Markt das Versagen der Kartellbehörde korrigiert.

Nachtrag 8. Juni: Gerade sehe ich die Schlagzeile auf Seite 1 der heutigen Zeitung: »Arcandor droht mit der Insolvenz«. Wie sich doch die Zeiten geändert haben! Früher war ein Unternehmen von der Insolvenz bedroht; heute droht es mit der Insolvenz.

Nachtrag 9. Juni:
Gerade lese ich, daß Arcandor auf Altschulden in Höhe von ca. einer Mrd. € sitzt. Nachdem Franz Josef Strauß 1983 den Milliardenkredit für die DDR eingefädelt hatte, war das eine riesige Sache und hat wahrscheinlich den Bankrott der DDR auf Jahre hinaus verzögert, und das bei immerhin 17 Millionen Bewohnern. Und das war »nur« eine Milliarde DM. Heute kann ein Unternehmen mit gerade einmal ein paar zehntausend Mitarbeitern sogar Verbindlichkeiten im Milliarden-Euro-Bereich aufhäufen. Wie ist das möglich? Muß man da nicht eine betrügerische Absicht (das Wissen, dies nicht zurückzahlen zu können, wäre ja eine solche) oder zumindest Insolvenzverschleppung, kurz: Kriminalität annehmen?

 

Nachtrag 16. Juni 2010: Dr. Klaus Peter Krause hat einen lesenswerten Artikel zur Entflechtung von Großunternehmen geschrieben.

 

Jetzt, ein Jahr nach obenstehendem Artikel, noch ein paar Gedanken zu Arcandor: Zu den wesentlichen Unternehmensbestandteilen gehörten ja Karstadt und Quelle. Dem Quelle-Gründer Schickedanz warf die Anklage im Entnazifizierungsverfahren vor, daß fast drei Viertel seines Vermögens aus jüdischem Besitz stamme, das er durch seine hervorragenden Beziehungen zur NS-Gauleitung im Zuge der Arisierung der Wirtschaft an sich gebracht habe. Unternehmensteile von Quelle wurden inzwischen verkauft und buchstäblich in alle Winde zerstreut. Karstadt, der andere große Arcandor-Bestandteil, wurde jetzt ausgerechnet von dem jüdischen Investor Berggruen gekauft. Ist das Gottes Sinn für Ironie?

 

Nachtrag 25. November 2011: Albrecht Müller — »Die Lüge von der Systemrelevanz«


Nachtrag 12. Januar 2012: Norman Hanert — Schweizer Studie bestätigt gefährliche wirtschaftliche Machtkonzentration


Nachtrag 16. Juli 2012: Philip Plickert — Wie schön ist es, systemrelevant zu sein

 

 

Photo: © Geier

 

 

 

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