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»… für die Rasse des Menschen im höchsten Grade schädlich …«


By Geier - Posted on 28 August 2009

28. August 2009


von Darwin zum »Lebensborn« — Geiers Beitrag zum »Darwinjahr 2009«

Im Widerstreit zwischen Schöpfungslehre und Darwinismus steht meist die Frage nach dem Herkommen des Menschen im Vordergrund. Tatsächlich könnten aber auch die ethischen Ableitungen, die sich aus dieser Differenz ergeben, unterschiedlicher nicht sein. Gemäß dem biblischen Menschenbild trägt alles Geschaffene das Siegel göttlicher Urheberschaft, auch wenn es infolge der Verfehlung schwach und erlösungsbedürftig ist. Jesus als der Arzt aller Schöpfung geht ganz besonders dem Schwachen nach, um es zu gewinnen (Lk. 5, 31), er löscht den glimmenden Docht nicht aus (Mt. 12, 20). Gemäß Darwinscher Lehre ist hingegen nur das Starke überlebensfähig, es setzt sich durch, indem es das Schwache verdrängt.

Zwar ist diese Verdrängung theoretisch auch passiv denkbar (indem das Schwache mit der Zeit ausstirbt, das Starke die größeren Beharrungskräfte hat), praktisch war es aber nur eine Frage der Zeit, bis die darwinsche Ideologie Adepten fand, die diese Verdrängung aktiv vorantreiben mochten und sie bis zur Vernichtung des (physisch oder geistig) Schwachen treiben würden. Die geschwächte Überlebensfähigkeit wurde als mangelnder Überlebenswert — als »lebensunwertes Leben« — definiert.

Dazu stellt sich folgende Frage, der im folgenden nachgegangen werden soll: Hätte sich z. B. die nationalsozialistische Rassen- und Eugenik-Ideologie überhaupt ohne die Grundlage des Darwinismus entwickeln können? Haben sich Darwinismus und Eugenik unabhängig voneinander und nebeneinander entwickelt oder gibt es hier eine kausale Kontinuität, eine folgerichtige Entwicklung direkt von Darwins Abstammungslehre bis hin zu den Eugenikprogrammen des zwanzigsten Jahrhunderts, von denen die bekanntesten (aber bei weitem nicht einzigen) Auswüchse in den Nürnberger Rassengesetzen oder dem nationalsozialistischen »Lebensborn«-Programm zu finden sind?

Während Rassismus an sich ein altes Phänomen ist, konnte sich seit Darwin erstmalig ein Rassismus mit wissenschaftlichem Anspruch entwickeln. Für moderne Sozialismen war es aber immer wichtig, ihr Tun mit einer »wissenschaftlichen Weltanschauung« zu unterfüttern; aus der behaupteten Wissenschaftlichkeit zogen sie ein Gutteil ihrer Legitimation. Vorherige Gesellschaftsmodelle wurden als archaisch und willkürlich abgetan, die Wissenschaftlichkeit des Sozialismus würde in die »Neue Zeit« führen, den »Neuen Menschen« schaffen, und dazu mußten eben zeitweise auch schmerzliche, ja inhumane Einschnitte hingenommen werden. Diese seien aber dadurch gerechtfertigt, daß ja dadurch die Menschheit anschließend an wahrhaft paradiesische Zustände herangeführt würde. In diesem Grundmuster zur Rechtfertigung von Unmenschlichkeiten gleichen sich nationaler und internationalistischer Sozialismus wie ein Ei dem anderen. Wer — so wie dies die Sozialismen getan haben — alle Regeln außer Kraft setzen will, die bisher eine Gesellschaft zusammengehalten haben, braucht hierfür Begründungen, die geeignet sind, Widerstände argumentativ niederzuringen. Im Fall der Eugenik hat der Darwinismus diese Begründungen geliefert und ihnen einen »wissenschaftlichen« Anstrich verpaßt.
Die These, daß sich ohne Darwin und Haeckel sicherlich andere pseudowissenschaftliche Stichwortgeber gefunden hätten, die man zur Begründung der nationalsozialistischen Eugenikprogramme hätte heranziehen können, greift zu kurz. Der Nationalsozialismus ist ja nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum entstanden, sondern hat sich aus den vorhandenen ideologischen Gegebenheiten seiner Zeit heraus entwickelt. Infolge des Darwinismus war das eugenische Denken schon in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts in Wissenschaft und Gesellschaft fest verankert. Ohne die geistige Vorarbeit von Haeckel, Ploetz und anderen hätte sich die eugenische Komponente des Nationalsozialismus mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gar nicht herausbilden können. Der Darwinismus war nicht nur nachgeschobene Begründung der »Rassenhygiene«-Programme, er war deren Inspirator. Während seiner Haft in Landsberg hat sich Hitler intensiv mit dem Thema befaßt und z. B. Inhalte aus Fritz Lenz’ Schrift »Menschliche Auslese und Rassenhygiene« für sein Buch »Mein Kampf« verwendet. Lenz hatte den ersten Lehrstuhl für »Rassenhygiene« in München ab 1923 inne, also lange vor der nationalsozialistischen Machtergreifung; es ist offensichtlich, daß hier der Nationalsozialismus nicht erst eine eugenische »Wissenschaft« befördern mußte, sondern sich vielmehr selbst von dieser zu seiner späteren Rassenpolitik anregen ließ.

Heute wird gewöhnlich die Legende gepflegt, daß eugenisches bzw. rassenhygienisches Gedankengut nicht von Darwin selbst, sondern erst von seinen Nachfolgern entwickelt wurde. Dies ermöglicht zwar eine ungestörte Verklärung des »Wissenschaftsheiligen« Darwin, ist aber so nicht richtig, auch wenn der Begriff »survival of the fittest« (Überleben des Stärksten, Angepaßtesten) erst von Herbert Spencer festgeschrieben wurde. Aber das eugenische Denken ist nicht vorstellbar ohne den ideologischen Unterbau des darwinschen Prinzips der »natürlichen Selektion«. Schon Darwin selbst hat formuliert: »Bei Wilden werden die an Geist und Körper Schwachen bald beseitigt und die, welche leben bleiben, zeigen gewöhnlich einen Zustand kräftiger Gesundheit. Auf der andern Seite thun wir civilisirte Menschen alles nur Mögliche, um den Process dieser Beseitigung aufzuhalten. Wir bauen Zufluchtsstätten für die Schwachsinnigen, für die Krüppel und die Kranken; wir erlassen Armengesetze und unsere Aerzte strengen die grösste Geschicklichkeit an, das Leben eines Jeden bis zum letzten Moment noch zu erhalten. Es ist Grund vorhanden, anzunehmen, dass die Impfung Tausende erhalten hat, welche infolge ihrer schwachen Constitution früher den Pocken erlegen wären. Hierdurch geschieht es, dass auch die schwächeren Glieder der civilisirten Gesellschaft ihre Art fortpflanzen. Niemand, welcher der Zucht domesticirter Thiere seine Aufmerksamkeit gewidmet hat, wird daran zweifeln, dass dies für die Rasse des Menschen im höchsten Grade schädlich sein muss.« (Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und geschlechtliche Zuchtwahl, E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung Stuttgart 1875, S. 174) Auch die Abhilfe, die Darwin noch relativ vorsichtig ins Auge faßt — »… trotzdem man mehr hoffen als erwarten kann, wenn die an Körper und Geist Schwachen sich des Heirathens enthielten« — findet sich, von der vagen Hoffnung Darwins nun zum Zwang entwickelt, später wieder in der Praxis der Eugeniker, zum Beispiel in den Eheverboten des nationalsozialistischen »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, das es ab 1935 Standesbeamten verbot, Ehen ohne Vorlage eines amtlichen Ehegesundheitszeugnisses zu schließen. Auch Darwin hatte schließlich schon in obencitiertem Werk beanstandet: »… mit Ausnahme des den Menschen selbst betreffenden Falls ist wohl kaum ein Züchter so unwissend, dass er seine schlechtesten Thiere zur Nachzucht zuliesse.«

Wie schon angedeutet, war die Eugenik kein ausschließlich oder auch nur vordergründig deutsches Phänomen. Im Juli 1912 fand der erste internationale Eugenik-Kongreß statt, der das gesamte academische Establishment seiner Zeit zu versammeln schien. Siebenhundert Ärzte, Professoren, Politiker, Biologen, Theologen, Feministinnen, Sozialreformer, Philosophen, Statistiker, Anthropologen und Naturwissenschaftler hatten sich in London versammelt, um die genetische Verbesserung des Menschen zu diskutieren. Ehrenpräsident des Kongresses war Charles Darwins Sohn, Leonard Darwin, der übrigens auch Vorsitzender der British Eugenics Society war. Überhaupt war dort eine illustre Gesellschaft zusammengekommen: Der spätere britische Premierminister Winston Churchill war genauso dabei wie der Präsident der Königlichen Ärztekammer, Barlow, der Bischof von Oxford, Gore und auch Dr. A. Ploetz, Präsident der Internationalen Gesellschaft für Rassenhygiene. Die Eugenik hatte zu dieser Zeit den Ruch des Excentrischen abgelegt und war in der Mitte der academischen Diskussion angekommen. Dabei waren selbst die wissenschaftlichen Grundlagen — von den ethischen ganz abgesehen — aus heutiger Sicht eher dürftig. Lamarcks Theorie, daß erlernte Eigenschaften vererbbar seien — angeblich habe die Giraffe einen langen Hals, weil die Tiere immer wieder versuchen würden, die höheren Äste zu erreichen — konnte zu der Ansicht herangezogen werden, daß z. B. auch kriminelle Neigungen nicht sozial erworben, sondern biologisch erblich seien. So konnte Alfred Ploetz (von dem noch zu hören sein wird) 1910 behaupten, daß Armut und Verelendung erblich veranlagt seien. Mit einer minimalen Wissensbasis — genetische Kenntnisse waren noch kaum vorhanden — wurden Prozesse eingeleitet, die für viele Menschen existentielle Auswirkungen hatten. Erste Gesetze über Zwangssterilisierungen wurden in westlichen Ländern verabschiedet. Der US-Bundesstaat Indiana hatte »Epileptikern, Schwachsinnigen und Geistesschwachen« bereits 1896 gesetzlich die Heirat verboten. Ab 1907 erließen insgesamt 33 US-Bundesstaaten Sterilisationsgesetze, auf deren Grundlage bis 1974 über 60.000 Menschen in den USA zwangssterilisiert wurden; die letzte Zwangssterilisierung wurde noch 1983 in Oregon dokumentiert. In den 1920er und 1930er Jahren folgten die skandinavischen Staaten und die Schweiz mit ähnlichen Gesetzen; in Skandinavien fanden Zwangssterilisationen bis in die 1970er Jahre statt, in der Schweiz wurde das entsprechende Gesetz erst 1985 kassiert.

Charles Darwins Neffe Francis Galton, ein Gelehrter, der übrigens den Begriff »Eugenik«* prägte, schrieb in seinem Buch »Hereditary Genius«: »Wenn es also … leicht ist, durch sorgsame Auslese eine beständige Hunde- oder Pferderasse zu erhalten … müßte es ebenso möglich sein, durch wohlausgewählte Ehen während einiger aufeinanderfolgender Generationen eine hochbegabte Menschenrasse hervorzubringen.« An anderer Stelle schrieb er: »Die Männer und Frauen von heute sind im Vergleich mit denen, die wir schaffen wollen, wie Straßenköter in einer orientalischen Stadt im Vergleich mit Rassehunden« und weiter: »Die schwachen Nationen der Welt überlassen den edleren Arten der Menschheit notwendigerweise ihren Platz …« Galton plante, die Eugenik »wie eine Religion in das nationale Bewußtsein einzuführen« um sicherzustellen, daß die Menschheit »durch die besten Rassen repräsentiert wird«.

Die Feministin Virginia Woolf notierte 1915 über eine zufällige Begegnung mit einer Gruppe geistig Behinderter: »Es war absolut entsetzlich. Sie sollten wirklich getötet werden.« George Bernhard Shaw schrieb: »Es gibt keine vernünftige Entschuldigung mehr, weiterhin nicht anerkennen zu wollen, daß nur eine eugenische Religon [sic!] unsere Zivilisation von dem Schicksal bewahren kann, das alle vorigen Zivilisationen überwältigt hat.« Was er damit meinte, wird klar, wenn wir lesen, was er 1934 im »Listener« forderte: »Ich rufe die Chemiker auf, ein humanes Gas zu entwickeln, das sofort und schmerzfrei tötet. Unbedingt tödlich, aber human und nicht grausam …«. 1961, in seinem Jerusalemer Prozeß, sollte sich Adolf Eichmann auf George Bernhard Shaw berufen. Er sagte aus, daß Hitler mit Cyklon B genau das gefunden habe, was Shaw verlangt hatte.

Winston Churchill schlug nach seiner Ernennung zum Innenminister 1910 vor, 100.000 Briten sterilisieren zu lassen. Eugenisches Denken hatte sich in einer Gemengelage aus Wissenschaft, Politik, Religion und Philosophie fest in den westlichen Gesellschaften etabliert; auch Mystiker haben zu seinem Erfolg wesentlich beigetragen wie z. B. Guido List, Friedrich Nietzsche oder Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie. List polemisierte gegen das Christentum, das, wie er meinte, die deutsche Heldenrasse »noch unter die Kulturebene der Australneger herabsinken« lassen würde. Steiner sah Afrikaner im Vergleich zu Weißen »wie eine unvollkommene Schnecke oder Amöbe zu einem vollkommenen Löwen« und war der Meinung, daß die besonderen Merkmale der äthiopischen Rasse daher kämen, daß »die Merkurkräfte in dem Drüsensystem der betreffenden Menschen kochen und brodeln«. Biologie und Ideologie hatten sich vermählt.

In Deutschland gehörte zu den wichtigsten Vorkämpfern der Eugenik Ernst Haeckel, der es sich 1859 nach der Lektüre von Darwins »Entstehung der Arten« zur Lebensaufgabe gemacht hatte, Darwins Evolutionstheorie zu verbreiten. Ohne jede Übertreibung kann man Haeckel als Darwin-Jünger bezeichnen. Er schrieb zum Beispiel, die Tötung behinderter Neugeborener könne »vernünftigerweise nicht unter den Begriff des Mordes fallen, wie es noch in unseren modernen Gesetzbüchern geschieht. Vielmehr müssen wir dieselbe als eine zweckmäßige, sowohl für die Beteiligten, wie für die Gesellschaft nützliche Maßregel billigen«** Sein Schüler Ploetz schreibt: »Die Erzeugung guter Kinder … wird nicht irgend einem Zufall … überlassen, sondern geregelt nach Grundsätzen, die die Wissenschaft … aufgestellt hat. Stellt es sich trotzdem heraus, daß das Neugeborene ein schwächliches oder mißgestaltetes Kind ist, so wird ihm von dem Ärzte-Collegium, das über den Bürgerbrief der Gesellschaft entscheidet, ein sanfter Tod bereitet, sagen wir durch eine kleine Dose Morphium.«***

Während sich einige Eugeniker mit einer »Zuchtwahl« beim Menschen, also einer Kombination aus genetisch sinnvollen »Paarungen« und Verhinderung unerwünschter Vermehrung, eben zum Beispiel durch Zwangssterilisation, zufriedengeben, zielen die Forderungen des Sozialdarwinisten Alexander Tille bereits auf die aktive Vernichtung unerwünschter Teile der Bevölkerung, für deren Begründung er übrigens auch auf Nietzsche zurückgreift: »Auch die sorgsamste Zuchtwahl der Besten vermag nichts, wenn sie nicht verbunden ist mit einer erbarmungslosen Ausscheidung der Schlechtesten … Diese Ausscheidung steht freilich in direktem Widerspruch zu der herrschenden Mitleidsmoral, aber das darf an ihr nicht irre machen. … Aus Liebe zu den kommenden Geschlechtern … predigte Zarathustra: Schone deinen Nächsten nicht! Denn der Mensch von heute ist ja etwas, das überwunden werden muß. Wenn er aber überwunden werden soll, dann müssen die Schlechtesten, die Niedrigen, die Vielzuvielen geopfert werden.«****

Der nationalsozialistische »Lebensborn«-Verein hatte viele Gesichter, am bekanntesten ist wohl seine Funktion als »Kuppelanstalt« für als besonders »reinrassig« angesehene Arier. Am unspektakulärsten waren sicherlich die Lebensborn-Heime für alleinstehende Mütter. Der Verein hatte aber auch die Aufgabe, Kinder aus osteuropäischen Waisenhäusern zu selektieren, um zu entscheiden, welche Kinder »gutrassig« genug und damit für eine »Eindeutschung« geeignet wären. Diese wurden in deutsche Adoptionsfamilien vermittelt. Aber über allen Bestrebungen des »Lebensborns« stand die eugenische Zielsetzung, »den Kinderreichtum in der SS zu unterstützen, jede Mutter guten Blutes zu schützen und zu betreuen und für hilfsbedürftige Mütter und Kinder guten Blutes zu sorgen«. So außerordentlich inhuman uns der »Lebensborn« und die dahinterstehende Ideologie heute vorkommen mögen, war er doch zu seiner Zeit unter den eugenischen Programmen in Europa und Übersee, die es ja, wie oben beschrieben, durchaus auch in demokratischen Staaten gab, nicht sonderlich auffällig. Der Gedanke, daß man an das Fortkommen menschlicher Gesellschaften die gleichen Maßstäbe anlegen könne oder solle wie bei der »Zucht domesticirter Thiere«, den Darwin noch eher zurückhaltend formuliert hatte, war innerhalb weniger Jahrzehnte von seinen Jüngern drastisch verstärkt und in die Mitte der Gesellschaft getragen worden, wo er in kürzester Zeit die Biographien unzähliger Menschen unwiederbringlich verändert und teilweise zerstört hat.

Noch in den sechziger Jahren hat Josef Mengele im südamerikanischen Exil in seinen Notizen eugenische Betrachtungen darüber festgehalten, daß inferiore (minderwertige) Menschen ausgerottet werden müßten. Heute, mit den Nachwirkungen der Erfahrungen der nationalsozialistischen Eugenik im Hintergrund, scheint es auf den ersten Blick — besonders in Deutschland — ausgeschlossen, eugenische Programme zu diskutieren oder gar zu betreiben. Dieser oberflächliche Eindruck täuscht aber.

Der medizinische Fortschritt bei der pränatalen Diagnostik hat es vielmehr ermöglicht, daß die Vernichtung »lebensunwerten Lebens« vom nachgeburtlichen in den vorgeburtlichen Bereich verschoben werden konnte; die Rechtsordnung in Deutschland ermöglicht nun, behinderte Kinder bis unmittelbar vor der Geburt abzutreiben, ohne eine Bestrafung gewärtigen zu müssen. Zwar gibt es für die vorgeburtliche Diagnostik (bisher) keinen gesetzlichen Zwang, in der Praxis kommt es aber durchaus vor, daß Eltern, die diese ablehnen, von Ärzten unter Druck gesetzt werden. Diese sehen sich ihrerseits bedroht von der Möglichkeit, im Falle der Geburt eines behinderten Kindes mit Schadensersatzforderungen seitens der Eltern konfrontiert zu werden.

Die vorgeburtliche Aussonderung Behinderter nimmt der Angelegenheit — gegenüber einer offen propagierten Euthanasiepraxis wie im Nationalsozialismus — ein Gutteil ihrer gesellschaftlichen Auffälligkeit: Sie wird öffentlich kaum wahrgenommen oder gar diskutiert, so daß es zum Beispiel der gegenwärtigen Bundesregierung bzw. dem Bundestag ohne weiteres möglich war, eine im Koalitionsvertrag beschlossene Abmilderung der Rechtslage bei Spätabtreibungen zuerst über Jahre hinweg zu verschleppen und schließlich nur solche Änderungen zu beschließen, die kaum praktische Relevanz entfalten würden. Und doch nimmt der Mediziner, der pränatal eine kindliche Behinderung diagnostiziert und zur Abtreibung rät, die Rolle des Selektionsarztes ein, der Menschen als »lebensunwertes Leben« klassifiziert und damit in den Tod schickt, gänzlich unbehindert und nahezu unbeachtet von der selben Gesellschaft, die sich angesichts ähnlicher Greuel vor wenigen Jahrzehnten ein »Nie wieder!« geschworen hatte. Auch sonst kommen die medizinischen Möglichkeiten den Wünschen der Eugeniker heute weit mehr entgegen, als diese sich dies wohl zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts vorstellen konnten: Die z. B. von dem Schweizer Psychiater, Sozialreformer und Eugeniker Auguste Forel oder von dem französischen Sozialisten Paul Robin geforderte Entkoppelung von Sexualität und Vermehrung ist heute durch Verhütung einerseits und künstliche Befruchtung andererseits weitgehend und in beide Richtungen möglich und es scheint nur eine Frage der Zeit, bis sich irgendwo gesellschaftliche Strömungen etablieren könnten, die willens sind, diese medizinischen Möglichkeiten auch im Sinne Farels systematisch einzusetzen, der schrieb: »Dann wird es kein verblödetes, unwissendes, degeneriertes geistiges und körperliches Lumpenproletariat mehr geben, das sich … kaninchenmäßig vermehrt und unsere Gesellschaft mit Schädlingen verpestet.«*****

In der Forderung nach der Entkoppelung von Sexualität und Vermehrung treffen sich bis heute die Interessen von Homo- und Transsexuelleninitiativen (die ja ein Adoptionsrecht für homosexuelle Gemeinschaften fordern), Feministinnen, Eugenikern und sonstigen Sozialreformern sowie die commerziellen Interessen von Fertilitätsmedizinern. Das gemeinsame Ziel ist — wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten — die Schaffung eines »Neuen Menschen« in einer »Neuen Gesellschaft« — das oben schon erwähnte Rechtfertigungsmuster also, das der gegenwärtigen Gesellschaft Opfer auferlegt zugunsten eines künftigen, einstweilen utopischen »Ideals«. Wenn man sich heute Verlautbarungen einiger deutscher oder europäischer Politiker (z. B. zum Thema »Gender Mainstreaming«[G]) ansieht, so passen diese hervorragend zu Tilles Credo, daß es »der Mensch von heute« sei, der »überwunden« werden müsse. Daß es von der Überwindung des Menschen durch indoktrinäre Volkspädagogik zur physischen Vernichtung derjenigen, die sich als gegen diese Indoktrination resistent erweisen, oft nur ein Schritt ist, hat die Geschichte gezeigt.

Wenn der Mensch erschaffen ist, muß er sich vor seinem Schöpfer auch für sein Tun verantworten, hat er sich aber selbst aus verschiedenen tierischen Vorfahren entwickelt, werden diese Ahnen kaum Rechenschaft von ihm fordern. Auch dieser Aspekt des Darwinismus hat zweifellos die Entwicklung der Eugenik und ihrer verschiedenen Auswüchse im zwanzigsten Jahrhundert begünstigt; mit einer Wissenschaftlichkeit, die sich innerhalb der Begrenzungen von Gottes Ordnungen bewegt, wären diese nicht möglich gewesen. Es ist also kein Zufall, daß die Eugeniker das Christentum als Feindbild ausgemacht und dieses als »Sklavenmoral« diskreditiert und bekämpft haben. Allein unter Christen gibt es das Wissen, daß jeder neue menschliche Versuch, den »Neuen Menschen« heranzuziehen — sei es mit volkspädagogischen oder eugenischen Mitteln — scheitern wird. Neu wird der Mensch gemäß 2. Kor. 5, 17 nur in Christus.

 


* Eugenik (von altgriech. eu »gut« und genos »Geschlecht«, »Geburt«) oder Eugenetik bezeichnet seit 1883 die Anwendung humangenetischer Erkenntnisse auf Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik mit dem Ziel, den Anteil positiv bewerteter Erbanlagen zu vergrößern und negativ bewerteter Erbanlagen zu verringern.
** Ernst Haeckel, »Die Lebenswunder«, Stuttgart 1905, S. 458f
*** Alfred Ploetz, »Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen«, Berlin 1895, S. 144
**** Alexander Tille, »Von Darwin bis Nietzsche, ein Buch der Entwicklungsethik«, Leipzig 1895, S. 232f
***** Auguste Forel, »Malthusianismus oder Eugenik?«, München 1911, S. 27

Weitere Quellen:
http://www.1000fragen.de/lebensfragen/lehrer.php?pn=8
http://einestages.spiegel.de/external/ShowTopicAlbumBackground/a380/l2/l0/F.html#featuredEntry
Philipp Blom, »Der taumelnde Kontinent«, Carl-Hanser-Verlag München 2009




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 Eine gekürzte Ausgabe dieses Artikels ist in »factum« 6/2011 erschienen.

 

 

 

Siehe zum Thema Eugenik auch die Geiernotizen:

 

»If you wish, you can«: Abtreibung und Eugenik

 

»… make it look as legit’ as possible« oder: Das Kind als Strafe

 

 


 

Nachtrag 18. 7. 2010: Bundesgerichtshof fördert mit umstrittenem Urteil vorgeburtliche eugenische Selektion.

 Man beachte den Cynismus von Frau Klopp, die in dem verlinkten Artikel schreibt:

Theoretisch ist eine Abtreibung in einem solchen Fall  sogar bis kurz vor der Geburt möglich, und bedeutet, dass der Fötus oft schon so weit entwickelt ist, dass es außerhalb des Mutterleibs überlebensfähig wäre. Ein grausamer Eingriff für die betroffenen Eltern, und wohl auch für den Arzt.

Grausam also für die Täter, aber nicht für das Opfer?

 

 

Nachtrag 9. 7. 2011: Der Wissenschaftshistoriker Prof. Dr. habil. Uwe Hoßfeld von der Friedrich-Schiller-Universität Jena bestätigt in seiner Broschüre »Rassenkunde und Rassenhygiene im ›Mustergau‹, 1930 — 1945« die darwinistischen Wurzeln der nationalsozialistischen Rassenlehre. Er schreibt: »Die Nationalsozialisten mußten also … — was ihre ›rassenkundliche Tradition‹ in den Bio- und Humanwissenschaften anging — sowohl methodologisch als auch theoretisch und praktisch nichts prinzipiell Neues erfinden. Sie nutzten letztlich nur das, was Houston St. Chamberlain, Francis Galton, Graf Arthur de Gobineau u. a. ihnen vorgezeichnet hatten.«

 

 

Nachtrag 4. 2. 2013 zu George Bernard Shaw:

 

 

 

Nachtrag 15. 10. 13: Moderne Eugenik — Die Biotechnologie-Firma 23andMe hat sich in den USA ein Patent auf ein Selektionsverfahren für menschliche Samen- und Eizellen gesichert, das es erlauben soll, Kinder mit bestimmten Wunscheigenschaften »herzustellen«.

 

 

Nachtrag 26. 7. 15: Die Dokumentation »Schöner neuer Mensch« illustriert viele Aussagen aus dem Artikel:

 

 

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