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Keine Angst vor langen Wörtern!


By Geier - Posted on 09 April 2011

9. April 2011

 

 

 

 

 

 

 

 

Der glänzende Satiriker Mark Twain schrieb 1878 in seinem Essay »The Awful German Language« (Die schreckliche deutsche Sprache) über deutsche Wortzusammensetzungen: 

»Es gibt zehn Wortarten, und alle zehn machen Ärger. Ein Durchschnittssatz in einer deutschen Zeitung ist eine erhabene und ehrfurchtgebietende Kuriosität; er nimmt eine Viertelspalte ein; er enthält sämtliche zehn Wortarten — nicht in der gehörigen Reihenfolge, sondern durcheinandergewürfelt; er ist hauptsächlich aus zusammengesetzten Wörtern gebaut, die der Verfasser an Ort und Stelle konstruiert hat, so daß sie in keinem Wörterbuch zu finden sind — sechs oder sieben in eines zusammengepreßte Wörter ohne Gelenk und Naht, das heißt: ohne Bindestriche; er behandelt vierzehn oder fünfzehn verschiedene Themen, von denen jedes in seine eigene Parenthese eingeschlossen ist, und jeweils drei oder vier dieser Parenthesen werden hier und dort durch eine zusätzliche Parenthese abermals eingeschlossen, so daß Pferche innerhalb von Pferchen entstehen; schließlich werden alle diese Parenthesen und Überparenthesen in einer Hauptparenthese zusammengefaßt, die in der ersten Zeile des majestätischen Satzes anfängt und in der Mitte seiner letzten Zeile aufhört — und danach kommt das Verb, und man erfährt zum ersten Mal, wovon die ganze Zeit die Rede war; und nach dem Verb — nur als Verzierung, soweit ich es ausmachen kann — schaufelt der Schreiber ›haben sind gewesen gehabt haben geworden sein‹ oder Wörter von ähnlicher Wirkung hinein, und das Monument ist fertig.* Ich nehme an, dieses abschließende Hurra ist so etwas wie der Schnörkel an einer Unterschrift — nicht notwendig, aber hübsch. Deutsche Bücher sind recht einfach zu lesen, wenn man sie vor einen Spiegel hält oder sich auf den Kopf stellt, um die Konstruktion herumzudrehen, aber eine deutsche Zeitung zu lesen und zu verstehen muß für den Ausländer wohl immer eine Unmöglichkeit bleiben.« 

Twain nennt die deutschen Zusammensetzungen »großartige Bergketten«, die sich »quer über die Druckseite ziehen«, dabei aber dem Schüler Verdruß bereiten, »denn sie versperren ihm den Weg, er kann nicht darunter durchkriechen oder darüber hinwegklettern oder sich einen Tunnel hindurchgraben. Also wendet er sich hilfesuchend an sein Wörterbuch; aber da findet  er keine Hilfe. Irgendwo muß das Wörterbuch eine Grenze ziehen — und so läßt es diese Art von Wörtern aus. … Die verschiedenen Wörter, aus denen sie aufgebaut sind, stehen im Wörterbuch, aber sehr verstreut, so daß man sie nacheinander aufstöbern kann und schließlich den Sinn herauskriegt, aber das ist eine langwierige und aufreibende Beschäftigung.« 

Zur Reform der deutschen Sprache schlägt er schließlich vor:

»Fünftens würde ich diese großmächtigen, langen, zusammengesetzten Wörter beseitigen oder den Sprecher auffordern, sie abschnittsweise vorzutragen, mit Pausen zum Einnehmen von Erfrischungen.«

Es gibt auch einen konstruktiveren Ansatz: Letztens meinte jemand, die Deutschen könnten doch Geld damit verdienten, Werbepausen in ihre langen Wörter zu schalten.

Dem Amerikaner Twain ist es nun durchaus nachzusehen, daß er seine liebe Not hatte mit der deutschen Neigung, Worte wie Module aus einem Baukasten zusammenzulöten; mit Bedauern stelle ich allerdings fest, daß in den letzten Jahren auch immer mehr deutsche Muttersprachler Probleme im Umgang mit Zusammensetzungen zu haben scheinen. Denn was Twain wohl nicht gewußt hat: Mit Zusammensetzungen und Getrenntschreibungen können im Deutschen durchaus wichtige Bedeutungsunterschiede markiert werden, und dies ist durchaus — hier ist Twain zu widersprechen — kein Schwachpunkt, sondern eine der besonderen Stärken des Deutschen.

Als vor einigen Jahren Bundespolitiker darüber nachdachten, die Berlinförderung endlich auf ein vernünftiges Maß zu stutzen, titelte eine große deutsche Zeitung »Wowereit fühlt sich allein  gelassen«. Das hätte ja stimmen können, wenn zum Beispiel Wowereit der einzige Berliner gewesen wäre, welcher die Angelegenheit mit Gelassenheit aufgenommen hätte (wohl wissend, daß Subventionskürzungspläne in Deutschland fast immer im Sande verlaufen). Hätte man also ausdrücken wollen: Allein Wowereit reagiert gelassen, alle anderen verfallen in Aufregung, wäre diese Schreibweise »er fühlt sich allein  gelassen« richtig gewesen (wenn auch stilistisch fragwürdig, da man dann besser »er allein fühlt sich gelassen« geschrieben hätte). Tatsächlich ging aus dem Kontext aber hervor, daß Wowereit sich von der Bundesregierung alleingelassen fühlte. Damit wurde der Sinn der Aussage durch die falsche Getrenntschreibung so ziemlich in sein Gegenteil verkehrt. Denn wer eine Pressemitteilung verfaßt, um aller Welt mitzuteilen, wie alleingelassen er sich fühlt, reagiert eben gerade nicht gelassen, sondern eher panisch.

 

Ich wurde gerade daran erinnert durch die Berichterstattung über den tragischen Auffahrunfall in Mecklenburg, wo selbige Zeitung schrieb, daß die Fahrzeuge »aufeinander gerast« seien und »ineinander geschoben« wurden.

Nein, die Autos sind nicht »aufeinander  gerast«, sondern aufeinandergerast. Und nein, sie sind auch nicht »ineinander  geschoben«, sondern ineinandergeschoben worden. Denn damit Autos aufeinander  rasen könnten, müßte man sie zunächst aufeinanderstapeln und dann diesen Stapel zum rasen bringen. Das stelle ich mir prinzipiell schwierig vor und ich bin ziemlich sicher, dies wird auch nicht dem tatsächlichen Ablauf des Geschehens am Ort entsprochen haben (und wenn doch, wäre die Unfallursache klar).

Um aber Autos ineinander  schieben zu können, müßte man erst Autos ineinanderpacken und hernach das gesamte so entstandene Gebilde aus ineinandersteckenden Fahrzeugen schieben. Das mag ein interessantes Experiment sein, doch ist solches bisher unerhört; bedauerlicherweise kommt es eben doch öfter vor, daß, wie im vorliegenden Casus, Autos ineinandergeschoben werden.

So vergnüglich Twain auch zu lesen ist: Lassen wir uns unsere deutschen Zusammensetzungen nicht nehmen, denn sie bieten uns feine Differenzierungsmöglichkeiten.

 

 

 

* Twain hat hier im englischen Original immerhin selbst einen bemerkenswerten Schachtelsatz gebaut, der beinahe Thomas-Mann-Format aufweist.

 

 

 

Nachtrag 3. 6. 13: Mit dem Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz geht das längste bekannte authentische Wort der deutschen Sprache in den Ruhestand.

 

 

 

 

 Abb.: Twain hält eine Lesung im Goldgräberlager

gemeinfrei, Österreichische Illustrirte Zeitung 1897

 

 

 

 

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